Skalierbarkeit, Profitabilität, Nachhaltigkeit: Die natürlichen Grenzen von Lieferdiensten

Die Pandemie hat dazu geführt, dass Verbraucher ihren Wocheneinkauf oder auch kleinere Mengen an Waren des täglichen Bedarfs zunehmend oft online abwickeln. Vor allem in Deutschland hat die Pandemie dem Online-Lebensmittelhandel (LEH) einen ordentlichen Schub verpasst und Quick-Commerce-Anbieter, die Warenkörbe binnen weniger Minuten per Fahrrad zum Kunden fahren, wie Pilze aus dem Boden schießen lassen. Seitdem machen immer mehr Verbraucher von dieser Möglichkeit Gebrauch und zeigen sich innovativen Einkaufserlebnissen gegenüber aufgeschlossen. Der E-Commerce-Branchenverband bevh berichtete kürzlich, dass bereits im zweiten Quartal des Jahres 2020 die Umsätze im Bereich E-Commerce mit Lebensmittel auf 772 Millionen Euro angestiegen sind. Dass der Trend zum E-Commerce im LEH Bestand hat, zeigt nicht zuletzt eine aktuelle Umfrage des Technologieunternehmens StrongPoint. Von 1.000 befragten Deutschen planen 90 Prozent, auch künftig Lebensmittel online zu bestellen.

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Skalierbarkeit, Profitabilität, Nachhaltigkeit: Die natürlichen Grenzen von Lieferdiensten. ©StrongPoint

„Ressourcen sind endlich und schon jetzt stoßen einige Anbieter von Lieferservices an Grenzen“, erklärt Tobias Kern, Business Development Director DACH bei StrongPoint. „Ab einem gewissen Punkt lässt sich das Konzept der Lieferung an die Haustür mit Blick auf Nachhaltigkeit, Profitabilität und Skalierbarkeit kaum profitabel weiter ausbauen. Das zeigen auch erste Konsolidierungsbewegungen am Markt.“

Der Experte skizziert die drei entscheidenden Herausforderungen für Lieferdienste und wo Lebensmitteleinzelhändler ansätzen können:

1. Abholstationen statt Lieferwagen – für mehr Nachhaltigkeit

Die Autoren des kürzlich veröffentlichten Berichts „Green Last Mile Europe 2022“ stellten fest, dass Haustürlieferungen derzeit den größten Anteil der CO2-Emissionen in der E-Commerce-Logistik ausmachen. Diese Entwicklung könnte durch eine umfassende Verbraucheraufklärung und eine breite Implementierung von zentralen Abholpunkten reduziert werden. Dies sei der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit im Handel, da Abholstationen den CO2-Ausstoß um bis zu 13.845 kg pro Jahr reduzieren. Der Bericht kennzeichnet Schließfächer und Abholpunkte als die nachhaltigste Zustellart im Out-of-home-Modell.

Die Lehren des Berichts lassen sich durchaus auf den Online-Lebensmittelhandel übertragen und fordern den LEH, gleich den richtigen Weg einzuschlagen. So können Lebensmitteleinzelhändler beispielsweise nicht nur die Logistik auf der letzten Meile effizienter gestalten, sie können auch die CO2-Emissionen um bis zu zwei Drittel im Vergleich zur Hauszustellung senken und die lokale Lärmbelästigung sowie Staus auf den Straßen erheblich reduzieren.

Mit Blick auf die Zukunft würde eine Weiterentwicklung und die verstärkte Nutzung von Abholpunkten weiterhin dazu beitragen, den Fahrzeugverkehr in den Städten zu reduzieren – die Luftqualität zu verbessern und das Klima zu schützen.

2. Skalierbarkeit und kalkulierbare Kosten 

Entlassungswellen, Proteste von Mitarbeitern hinsichtlich der Arbeitsbedingungen sowie die aktuelle Konsolidierungsphase unter den Anbietern zeigen: Der deutsche Quick-Commerce-Markt ist unberechenbar. Die Zusammenarbeit mit den externen Dienstleistern birgt für Lebensmitteleinzelhändler unternehmerische Risiken. Selbst kleinste Änderungen in der Kostenstruktur hat für sie im margenschwachen LEH-Markt große Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit. So treiben Lohnanpassungen und die wachsende Personalknappheit die Kosten in die Höhe. Dazu kommt eine abnehmende Verfügbarkeit von E-Bikes und Transportern, bedingt sowohl durch fehlende Bauteile aufgrund der Produktions- und Lieferkettenprobleme als auch durch die Verknappung bei stetig steigender Nachfrage. Hier stößt das Konzept Lieferservice zunehmend an die Grenzen der Skalierbarkeit. Entlastung kann die Ergänzung des Angebots mit alternativen Click & Collect-Konzepten schaffen.

Für Lebensmitteleinzelhändler mit einem bestehenden Filialnetz sind solche Modelle gut geeignet, da sie entsprechende Abholpunkte in ihr bestehendes Filialnetz integrieren können. Die Vorteile für Händler und auch Kunden sind vielfältig: Bei der Nutzung von gekühlten Abholstationen als Abholpunkt profitieren Händler durch die Rund-um-die-Uhr-Zugänglichkeit von möglichen Umsatzsteigerungen auch außerhalb der Geschäftszeiten. Kunden wiederum gewinnen deutlich an zeitlicher Flexibilität beim Einkauf und können dazu Warteschlangen im Geschäft vermeiden. Darüber hinaus ergibt sich eine Entzerrung auf der Ladenfläche, indem Stoßzeiten verringert und das Personal entlastet wird. Auch kann das Personal über die gesamte Arbeitszeit hinweg effizienter eingesetzt werden. So können ruhigere Phasen genutzt werden, um Warenkörbe für Online-Bestellungen zu packen und Abholstationen zu befüllen.

3. Konzentration auf Ballungsräume

Wachstum vs. Profitabilität – gerade im Bereich des klassischen Lebensmitteleinzelhandels müssen Entscheider immer wieder diesen schmalen Grat gehen. Im Retail sind die Umsätze zwar groß, doch Umsätze sind bekanntlich kein Gewinn. Die Margen sind klein und Controller sowie Einkäufer müssen die operativen Kosten und die Supply Chain ständig im Auge behalten, denn es gilt: In keiner anderen Branche ist die Konkurrenz so groß wie im Lebensmitteleinzelhandel. Spielräume für Investitionen sind zwar knapp, doch kaum ein Handelsunternehmen kann es sich leisten Marktpotenziale zu ignorieren.

Im Online-Lebensmittelhandel hingegen herrscht seit einigen Jahren Goldgräberstimmung. Das Kerngeschäft der meisten Quick-Commerce-Anbieter konzentriert sich jedoch auf Innenstädte und Metropolregionen wie Köln, Rhein-Ruhr, Frankfurt, München, Hamburg oder Berlin, wo sie miteinander konkurrieren. Bewohner ländlicher Regionen außerhalb der Ballungsgebiete haben bisher noch keinen Zugang zu Lieferdiensten – was knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmacht und ein großes Umsatzpotenzial bietet. Quick-Commerce-Anbieter und der LEH verpassen die Erschließung aktuell gleichermaßen. Der Grund ist einfach: Die Investitionskosten sind für beide Marktteilnehmer hoch. Auch der etablierte LEH mit seinem recht großen Filialnetz ist hier nicht besonders gut aufgestellt. Nach Berechnungen des IFH bietet derzeit der Händler Rewe, der seinen eigenen Lieferdienst bereits seit 2011 betreibt, noch die größte Abdeckung in der Fläche. Aber auch Rewe erreicht insgesamt nur rund 40 Prozent der Bevölkerung.

Dass der Quick-Commerce in den nächsten Jahren in die Fläche investiert, ist dabei unwahrscheinlich. In Analogie haben auch Food-Delivery-Services, die schon länger am Markt operieren, es nie in die Fläche geschafft. Für den etablierten LEH bietet dies jedoch eine Chance. Lebensmitteleinzelhändler, die diese Geschäftspotenzial erschließen wollen, können mithilfe innovativer Lieferkonzepte auch abgelegenere Standorte auf profitable Weise erreichen. Zentrale, von LEHs eventuell sogar gemeinsam betriebene Abholpunkte in Dörfern und Kommunen bieten die Möglichkeit, den Online-Handel in die Breite zu tragen und Märkte zu erschließen, die sie selbst in Zusammenarbeit mit dem Quick-Commerce nicht erreichen.