Handelsexperte Marcus Diekmann: 50 Prozent aller kleinen und mittleren Handelszentren Deutschlands sind überflüssig und das ist gut so

Marcus Diekmann, Digital-Unternehmer, Start-Up-Investor und Gründer der Initiative „Händler helfen Händlern“ hat die Fakten zusammengetragen: In ihrer heutigen Struktur haben viele deutsche Klein- und Mittelstädte keine Überlebenschance mehr. Der Niedergang des Handels kann aber seiner Meinung zur Chance werden. Kommunen sollten sich völlig neu erfinden: Als Orte voller Leben, Arbeit, Spaß, Gastronomie, Wohnen, Spielen, Sport und Kultur können diese Zentren neu aufblühen, sagt der Handelsexperte in seinem Gastbeitrag im aktuellen Handelsblatt.

Marcus Diekmann Fotocredit Sebastian Wolf
Marcus Diekmann, Digital- und Handelsexperte, sieht in der Strukturkrise des Handels eine große Chance. Diekmanns Faustformel lautet: Kommt Leben zurück ins Zentrum, kommen im nächsten Schritt auch wieder individuelle und großartige Handelskonzepte zurück. ©Sebastian Wolf

Die Konsumlaune der Deutschen ist so schlecht wie schon seit über 30 Jahren nicht mehr. Der Umsatz im deutschen Handel wächst zwar weiterhin um 7,5 Prozent in 2022, der Großteil entfällt jedoch auf höhere Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren. Zugleich stieg der Online-Handel in Deutschland laut Statista um 19,1 Prozent auf 87 Milliarden Euro (2021). Besonders fatal: Gerade, was früher klassisch in der Innenstadt gekauft wurde, wie Mode, Schmuck und Accessoires, Freizeit- und Hobbyartikel sowie Elektronik hat jetzt die höchsten Online-Anteile. Anfang des Jahres prognostizierte der HDE drei Mal so viel Geschäftsaufgaben im Einzelhandel wie durchschnittlich in den Jahren vor der Pandemie. Aktuell rechnen Experten in absehbarer Zeit mit weiteren 50.000 Ladenschließungen.

Handelsexperte Marcus Diekmann zieht die logische Schlussfolgerung: „50 Prozent aller kleinen und mittleren Handelszentren sind zukünftig überflüssig. Und das ist gut so, wenn wir die Situation als Chance zu einer echten Veränderung begreifen.“ Abgesehen vom der Nahversorgung braucht ein lebenswertes und lebendiges Zentrum nicht zwangsläufig einen klassischen Handel, so Diekmanns Einschätzung. Die Kommunen könne sich stattdessen auf die eigenen Stärken besinnen: Nähe, Zusammenhalt, Natur, günstigere Grundstücke und Mietpreise und den liebenswerten Charme der Klein- und Mittelorte.

Mehr Leben im Zentrum bringt großartige Konzepte zurück

Diekmanns Faustformel lautet: Kommt Leben zurück ins Zentrum, kommen im nächsten Schritt auch wieder individuelle und großartige Handelskonzepte zurück. Er fordert dafür die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen: „Warum ist es immer noch nicht zulässig, in Handelsimmobilien zu leben? Wäre das möglich, könnte man beispielsweise Ladenlokale in Wohnraum oder Büros umfunktionieren.“. In brachliegenden Immobilien können dann Coworking Flächen, Gastronomie, Sport, Bibliotheken, Jugendzentren oder Kunst- und Kulturstätten entstehen. Zeitgleich Spielplätze in das Zentrum integriert und mehr Veranstaltungen und größere Märkte in der Stadt angeboten werden.

Struktureller Wandlungsprozess

Doch es braucht nicht nur gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen, sondern zuallererst ein radikales Umdenken und vor allem eine überregionale Abstimmung. Diejenigen Kommunen, die strukturell die Bedingungen erfüllen, weiterhin als Einkaufszentren zu bestehen, bauen ihren Handel innovativ aus und werden dabei von ihren Nachbar-Kommunen unterstützt, statt sich auch noch gegenseitig die verbleibenden Umsätze zu kannibalisieren.

Die anderen Kommunen begreifen das als Chance, sich völlig neu zu erfinden. Am Ende dieses Wandlungsprozesses sollten Klein- und Mittelzentren stehen, in denen sich die Menschen wieder gerne zum Wohnen, Arbeiten, für die Gemeinschaft, für Aktivitäten und zum gegenseitigen Austausch aufhalten. Dafür müssten Kommunen, Kulturschaffende, Immobilieneigentümer und Bürger gemeinsam ein Konzept entwickeln, was ihr Zentrum unverwechselbar macht.

Über Marcus Diekmann

Marcus Diekmann ist Mit-Gesellschafter und Beirat des mittelständischen Fahrradhändlers Rose Bikes. Als Handelsexperte berät er Unternehmen bei der digitalen Transformation. In der Coronakrise hat er die Initiative „Händler helfen Händlern“ gegründet mit mittlerweile mehr als 4700 Mitgliedern.