Der digitale Wandel im internationalen Vergleich

Der deutsche Stationärhandel kann den gestiegenen Kundenwunsch nach mehr Informationen bisher nur teilweise erfüllen; das zeigte unsere Locafox-Infografik aus dem Februar 2015, in der wir die Präsenz der deutschen Top-100-Einzelhändler im Internet genauer untersucht haben. Darauf aufbauend zeigen wir nun, wie fortschrittlich bzw. rückständig sich der digitale Wandel der deutschen Top-25-Händler im Vergleich zu Händlern aus Frankreich, Großbritannien und den USA gestaltet und welche Services in den jeweiligen Ländern am beliebtesten sind. Handelsexperte Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer der IFH Institut für Handelsforschung GmbH Köln, interpretiert dafür zusammen mit locafox die Ergebnisse.

 

Die Analyse. Mit: Handelsexperte Dr. Kai Hudetz, Geschäftsführer IFH Köln

Herr Dr. Hudetz, ein Online-Shop ist für die ‚Großen’ im Stationärhandel langsam zum Standard geworden. Wie lange hat der Handel benötigt, um den damals aufkommenden Trend zum digitalen Wandel zu verinnerlichen und umzusetzen?

Ende der 1990er Jahre, noch vor der Dotcom-Blase, haben bereits die ersten Händler den Schritt ins Internet gewagt. Heute, mehr als 15 Jahre später, ist der Prozess aber noch nicht abgeschlossen; längst sind nicht alle Händler online vertreten. Vielmehr noch: Einige Händler haben immer noch nicht verstanden, wie wichtig das Internet heute für ihr Überleben ist. Für sie wird es langsam schwer, den Rückstand aufzuholen – in vielen Fällen wird es dafür sogar schon zu spät sein. Die Dotcom-Blase war sehr schädlich für den Entwicklungsprozess und hat dazu geführt, dass viele Händler abgeschreckt Abstand vom Internet genommen haben. Das kann man sich heute nur noch schwer vorstellen. Anschließend war es dann ein schleichender Prozess, der sich über viele Jahre hingezogen hat. Ab Mitte der 2000er konnte man beobachten, wie sich der Online-Handel immer mehr zu einer festen Größe entwickelte. Zalando ist hier ein gutes Beispiel: Damals noch als Online-Shop für Schuhe, drängte das Unternehmen mit einem so enormen Tempo in den Markt, dass jedem stationären Händler, der das Internet zuvor als unwichtig abgetan hatte, Angst und Bange wurde. Schlagartig war eigentlich jedem klar, dass das Internet fortan nicht mehr nur eine Nische im Handel darstellt.
Eine ähnlich sukzessive Entwicklung ist für die Verbindung von Online- und Offline-Handel absehbar. Besonders der Erfolg von Online hin zu Offline wird von den ersten Unternehmen nun bestätigt: 80 Prozent der Web-Bestellungen bei Ernstings Family zum Beispiel wurden mit Buy & Collect abgeschlossen. Der Service ist ganz offensichtlich für bestimmte Zielgruppen interessant. Das hängt auch mit der Frage zusammen: Wie bequem ist es denn letztendlich für den Kunden wirklich, sein Paket zugestellt zu bekommen?

Auch der mobile Kunde kann mit dem deutschen Einzelhandel noch nicht gänzlich zufrieden sein: Zum einen sind nur 68 Prozent der Händlerwebseiten für mobile Endgeräte optimiert, zum anderen haben die entwickelten Apps größtenteils keine maßstabssetzenden Kundenbewertungen und kaum die Akzeptanz der großen Masse erreicht. Woran liegt das?

Dieser Punkt überrascht mich, ehrlich gesagt, etwas. Es ist kein Geheimnis, dass mobile Endgeräte seit Jahren den Markt erobern. Die Zahl der Smartphone-Nutzer steigt kontinuierlich; schon heute surfen 44 Millionen Deutsche auf mobilen Endgeräten. Auch die Erstellung einer mobilen Webseite ist mittlerweile keine Raketenwissenschaft mehr; insofern ist es durchaus verwunderlich, dass rund ein Drittel der untersuchten Händler an dieser Stelle ein so großes Defizit aufweist. Wenn ich als Händler doch eh schon im Internet vertreten bin, ergibt es gar keinen Sinn, meine Seite nicht für mobile Endgeräte zu optimieren.
Etwas anderes ist das beim Thema App: Sie ist nicht unbedingt für jeden Händler das Richtige. Jede zweite App wird vom Konsumenten heruntergeladen und dann nie mehr verwendet, weil sie den Erwartungen des Users nicht gerecht wird. Man muss da schon ausreichend und regelmäßig Mehrwert transportieren. Eine App muss einzigartig sein, dem User etwas bieten, das sonst keine andere App liefert. Ohne dieses Alleinstellungsmerkmal ist es dann wahrscheinlich sinnvoller, gar keine App zu veröffentlichen als dem Konsumenten etwas Halbgares anzubieten.

In Großbritannien überwiegt Buy & Collect, US-amerikanische Händler legen verstärkt den Fokus auf die Online-Abfrage der Produktverfügbarkeit im Geschäft, und Reserve & Collect steckt noch in den Kinderschuhen. Welcher Service schafft denn für den Kunden ausreichend Mehrwert gegenüber einem reinen Online-Einkauf?

Je nach Produktkategorie und Kundenintention ergeben sich für jeden Dienst verschiedene Use Cases. Kunden werden immer ungeduldiger und anspruchsvoller; in vielen Situationen ist der stationäre Handel nach wie vor ihr bevorzugter Kaufkanal. Das Internet rückt als Informationsquelle in den Vordergrund, Kunden ziehen es vermehrt vorab zur Recherche zu Rate (ROPO; d. Red.). Der Verfügbarkeitsanzeige kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu: Kunden möchten zunehmend auch wissen, ob ein stationärer Händler einen gewünschten Artikel vorrätig hat, bevor sie losmarschieren.
Reserve & Collect ist aus Kundensicht dann sinnvoll, wenn die letztendliche Kaufabsicht noch nicht getroffen ist und man den Gegenstand vor dem Kauf noch einmal sehen und fühlen möchte. Daneben bekommt man die Sicherheit, dass das Wunschprodukt im Geschäft auf einen wartet. Für Händler bietet Reserve & Collect den Vorteil zusätzlicher Impulskäufe, wenn der Kunde eh schon mal im Laden ist. Buy & Collect bietet kundenseitig die meiste Bequemlichkeit, wenn die Abholstation direkt am Eingang erreichbar ist und man das Geschäft nicht mehr betreten muss. Das spart Zeit und bietet eine gewisse Flexibilität. Wenn es mir als Verbraucher also um Schnelligkeit geht, könnte Buy & Collect sehr praktisch für mich sein.

Die Ergebnisse bestätigen auch, was wir im Grunde schon wissen – nämlich, dass UK im Bereich Cross-Channel den Ton angibt, Frankreich hat enorm aufgeholt. Deutschland steht bei dem Thema hingegen erst am Anfang.

Welche fünf Tipps möchten Sie Händlern zum Thema Cross-Channel bzw. digitalem Wandel auf den Weg geben?

Erstens: Man muss sich mit diesem Thema intensiv auseinandersetzen, daran führt kein Weg vorbei. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich mache es oder ich verliere in der Zukunft Umsatz. Das ist kein Trend, der vorübergeht, sondern ein Thema, das mein Geschäftsmodell nachhaltig verändert.

Zweitens: Stationäre Händler müssen sich klar überlegen, welche Zielsetzung sie mit ihrem Online-Engagement verfolgen. Soll eine nähere Kundenbindung aufgebaut, der Kundenservice verbessert oder die Kundenansprache optimiert werden? Bei vielen Händlern scheitert es oft schon genau daran. Sie denken, sie müssen irgendwie online präsent sein, fühlen sich getrieben und handeln aktionistisch. Aber: Keiner wird meinen Service nutzen, nur weil ich online bin.

Drittens: Weniger ist mehr. Lieber auf das Essentielle fokussieren, das dann aber, konsequent vom Kunden her gedacht, mit entsprechenden Mehrwerten versehen.

Viertens: Es braucht Partner, um die Brücke zwischen Online- und Offline-Welt schlagen zu können. Viele stationäre Händler sind damit selbst schlicht überfordert.

Fünftens: Cross-Channel wird mir nichts nützen, wenn ich dem Kunden bereits stationär kein positives Einkaufserlebnis bieten kann. Wer jedoch seinen Kunden zum Beispiel u. a. eine kompetente Beratung und aktuelle Bestandsdaten bieten kann, dem wird Cross-Channel dabei helfen, zukünftig mindestens genauso gut oder noch besser am Markt dazustehen.