Resilienz in der Supply Chain: Unternehmen müssen Lieferketten permanenten Stresstests unterziehen
Widerstandsfähig sein, Krisen bewältigen und gestärkt daraus hervorgehen: Was Resilienz in der Psychologie bedeutet, wäre auch der optimale Zustand für Lieferketten. Doch im Pandemie-Jahr 2020 hat sich gezeigt, dass es zur Herausforderung werden kann, auf Spitzenlasten im boomenden Online-Handel zu reagieren. Das gelingt nur, wenn die Supply Chain resilient ist. Was das genau bedeutet und wie man es erreichen kann – darüber haben wir mit Arnd Huchzermeier gesprochen. Er ist Professor und leitet den Lehrstuhl für Produktionsmanagement der WHU Otto Beisheim School of Management in Vallendar, Rheinland-Pfalz. Er hat kürzlich mit internationalen Kollegen zwei Artikel zum Thema veröffentlicht.
Inhaltsverzeichnis
Herr Huchzermeier, was haben Sie in Ihren jüngsten Untersuchungen herausgefunden?
Arnd Huchzermeier: Wir haben mit zahlreichen Supply Chain Executives gesprochen und sie haben bestätigt: Die Wichtigkeit resilienter Lieferketten wird keinesfalls unterschätzt. Aufgrund unterschiedlichster Umstände wie Budgets oder Hierarchien sind sie aber selten tatsächlich so ausgestaltet. Eine End-to-End-Visibility, bei der Supply Chain Executives jederzeit Transparenz über alle Bestände und Lieferungen haben, ist immer noch in vielen Unternehmen nicht umgesetzt. Das führt dann bei einer plötzlichen Krise zu einem Überreagieren: Wenn eine Fabrik ausfällt, werden plötzlich extrem teure Anschaffungen wie eine zweite Fabrik gestemmt. Wenn die Krise vorbei ist, merkt man, dass die zu teuer ist – und die Maßnahmen werden wieder gecancelt. In der nächsten Krise läuft es wieder so und führt zu einem Jojo-Effekt. Man muss resiliente Strukturen angehen, wenn es ruhig ist und braucht einen nachhaltigen Ansatz: Kurzfristiges Denken ist der Tod für die Resilienz.
Welche Strategien führen zu einer resilienten Lieferkette?
Arnd Huchzermeier: Es gibt keinen One-size-fits-all-Ansatz. Es gibt drei Gruppen von Unternehmen, die jeweils mit unterschiedlichen Strategien Erfolg haben: Unternehmen wie Infineon machen ein Produkt und haben eine Lieferkette: Die haben verschiedene Werke in verschiedenen Regionen: Wenn das Werk in Asien ausfällt, funktioniert das in Europa noch. Die BMWs dieser Welt gehen enge Partnerschaften ein, in dem Fall mit Bosch, die verschmelzen fast und können dann bei Spitzenlasten sagen: Macht mal mehr für uns. Unternehmen wie Henkel haben verschiedenste Supply Chains für verschiedenste Produkte und switchen bei Krisen einfach ihre Lieferanten und konzentrieren sich auf die stärkste Nachfrage.
Wie finden Unternehmen heraus, wo ihre Schwachstellen liegen?
Arnd Huchzermeier: Permanente Stresstests sind nicht mehr nur Banken vorbehalten, auch jedes Unternehmen muss sie ständig durchführen. Dazu kommen Szenarioanalysen – und zwar nicht nur virtuell in Planungteams, sondern auch mit real betroffenen Mitarbeitern. Man muss sich also die Frage stellen: Wenn dieser Knoten in der globalen Supply Chain platzt, was bedeutet das ganz konkret für uns? Am besten ist es, wenn man einen Kontroll-Tower oder einen 24/7 real-time „War Room“ hat, wo ständig alle Informationen über die Lieferkette zusammenfließen. Das ist aber aktuell nur bei großen Unternehmen realisierbar.
Wie „misst“ man Resilienz?
Arnd Huchzermeier: Es gibt drei Messgrößen: Zum einen die Time-to-Recovery, das heißt: Wie lange brauche ich, um mich von einer Krise zu erholen? Dann die Time-to-Serve: Wie lange kann ich meine Kunden mit den derzeitigen Beständen noch beliefern? Und schließlich der finanzielle Schaden, den ich aus der Krise hervortragen werde. Wichtig ist, dass Unternehmen ihr Netzwerk auf Basis dieser Fragen permanent analysieren und in flexible und redundante Strukturen investieren. Und: Es sollte immer über Unternehmensgrenzen hinweg gemessen werden, denn das schwächste Glied in der Kette zählt.
Wie wichtig sind resiliente Lieferketten, um auch in Zukunft als Unternehmen wettbewerbsfähig zu bleiben?
Arnd Huchzermeier: Resilienz war auch schon bevor sie in aller Munde war wichtig für Unternehmen, nur dass man es damals nicht so genannt hat. Auch vor 50 Jahren wollten Unternehmen anpassungsfähig, flexibel sein und robust genug, um Marktschwankungen auszugleichen. All diese Attribute sind auch Teilaspekte einer Resilienz-Definition. In Zukunft ist sie vor allem wichtig, da Ressourcenknappheit, globale Erwärmung und die damit einhergehenden Wetterphänomene, sowie politische und handelsrechtliche Konflikte stark zunehmen.
Hat Corona erst klar gemacht, wie wichtig robuste Lieferketten sind?
Arnd Huchzermeier: Durch die Pandemie sind vielen Unternehmen erst die finanziellen Risiken klar geworden, die mit anfälligen Lieferketten verbunden sind. Jetzt wissen alle, wie wichtig ein Risikomanagement für die Supply Chain ist. Wir haben zum ersten Mal eine zeitliche und globale Verschiebung der Nachfrage erlebt – mit geographischen Shifts der Produktion wegen Wetterereignissen oder Handelskonflikten konnten wir besser umgehen.
Was sind neben der Pandemie gerade die gefährlichsten Störfaktoren für Lieferketten?
Arnd Huchzermeier: Die Top-3-Risken sind auf jeden Fall Ressourcenknappheit, Corona-Ausbrüche und Cybersecurity. Globale Erwärmung rangiert im Mittelfeld. Der Brexit findet als Gefahr für die Lieferketten eigentlich nicht statt, weil es kein plötzlich eintretendes Ereignis war, sondern eine Entwicklung, auf die man sich lange einstellen konnte.
Zur Person:
Arnd Huchzermeier, Jahrgang 1961, hat Betriebswirtschaftslehre und Informatik & Operations Research (Wirtsch.-Ing.) am Karlsruher Institute of Technology (KIT) studiert. Seinen Doktortitel erwarb er an der Wharton School der University of Pennsylvania, USA. Zurzeit ist er Inhaber des Lehrstuhls für Produktionsmanagement an der Otto Beisheim School of Management der WHU und unterrichtet regelmäßig an der Wharton School und der Kobe University in Japan.
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