EU-Herbstprognose 2020: Wiederaufflammen der Pandemie unterbricht wirtschaftliche Erholung

Die Coronakrise trifft die EU-Staaten unterschiedlich hart. In der ersten Jahreshälfte erlitt die Wirtschaftstätigkeit überall in Europa einen schweren Schock, erholte sich im dritten Quartal und ist nun durch das Wiederaufflammen der Pandemie in den letzten Wochen wieder erheblich gestört. In der heute (Donnerstag) vorgelegten Herbstprognose 2020 geht die Europäische Kommission davon aus, dass die Wirtschaft des Euroraums 2020 um 7,8 Prozent schrumpfen wird, in Deutschland um 5,6 Prozent. „Das Wachstum wird 2021 wieder anziehen, aber es wird zwei Jahre dauern, bis die europäische Wirtschaft ihren Stand vor der Pandemie wieder erreicht“, sagte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. Angesichts der derzeit sehr großen Unsicherheit müsse die nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter Unterstützung leisten. Der EU-Aufbauplan NextGenerationEU müsse in diesem Jahr dringend verabschiedet und im ersten Halbjahr 2021 wirksam umgesetzt werden.

Die EU-Wirtschaft insgesamt dürfte 2020 um 7,4 Prozent schrumpfen; es wird 2021 mit einem Wachstum von 4,1 Prozent (in Deutschland um 3,5 Prozent) und 2022 mit einem Wachstum von 3 Prozent (in Deutschland um 2,6 Prozent) gerechnet.

Unterbrochene und unvollständige wirtschaftliche Erholung

Im Vergleich zur Sommerprognose 2020 liegen die Wachstumsprognosen sowohl für das Euro-Währungsgebiet als auch für die EU insgesamt für 2020 etwas höher und für 2021 etwas niedriger. Die Produktion sowohl im Euroraum als auch in der EU wird voraussichtlich 2022 ihren Stand vor der Pandemie nicht erreichen. Für Deutschland sind die Aussichten besser: hierzulande dürfte die Wirtschaftsleistung 2022 wieder leicht über dem Stand von 2019 liegen.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie waren in der EU sehr unterschiedlich; das Gleiche gilt für die Aussichten auf eine Erholung. Dafür verantwortlich sind die Ausbreitung des Virus, die jeweiligen strengen Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zur Eindämmung des Virus, die sektorale Zusammensetzung der Volkswirtschaften und die Stärke der nationalen politischen Maßnahmen.

Verhaltener Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Konjunkturrückgang

Der Verlust von Arbeitsplätzen und der Anstieg der Arbeitslosigkeit hat starken Druck auf die Existenzgrundlage vieler Europäerinnen und Europäer ausgeübt, doch Maßnahmen der Mitgliedstaaten und Initiativen auf EU-Ebene haben dazu beigetragen, die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitsmärkte abzufedern. Aufgrund der beispiellosen Maßnahmen, insbesondere im Rahmen von Kurzarbeitsregelungen, blieb der Anstieg der Arbeitslosenquote im Vergleich zum Konjunkturrückgang gedämpft. Die Arbeitslosigkeit dürfte 2021 weiter ansteigen, da die Mitgliedstaaten die Soforthilfemaßnahmen auslaufen lassen und neue Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt eintreten; sie dürfte aber 2022 im Zuge der wirtschaftlichen Erholung wieder abnehmen.

Laut Prognose wird die Arbeitslosenquote im Euroraum voraussichtlich von 7,5 Prozent im Jahr 2019 auf 8,3 Prozent im Jahr 2020 und 9,4 Prozent im Jahr 2021 ansteigen und 2022 auf 8,9 Prozent sinken. Die Arbeitslosenquote in der EU wird voraussichtlich von 6,7 Prozent im Jahr 2019 auf 7,7 Prozent im Jahr 2020 und 8,6 Prozent im Jahr 2021 ansteigen und 2022 auf 8,0 Prozent sinken.

Anstieg von Defiziten und Staatsverschuldung

Die öffentlichen Defizite dürften in diesem Jahr in der gesamten EU durch steigende Sozialausgaben und sinkende Steuereinnahmen erheblich ansteigen, sowohl durch die außergewöhnlichen politischen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft als auch durch automatische Stabilisatoren.

Laut Prognose werden sich die gesamtstaatlichen Defizite des Euro-Währungsgebiets von 0,6 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf rund 8,8 Prozent im Jahr 2020 erhöhen und danach auf 6,4 Prozent im Jahr 2021 und 4,7 Prozent im Jahr 2022 sinken. Dies entspricht der erwarteten schrittweisen Einstellung der Soforthilfemaßnahmen im Laufe des Jahres 2021 im Zuge der wirtschaftlichen Erholung.

Entsprechend dem Anstieg der Defizite geht die Prognose davon aus, dass die Gesamtschuldenquote des Euroraums von 85,9 Prozent des BIP im Jahr 2019 auf 101,7 Prozent im Jahr 2020 und weiter auf 102,3 Prozent im Jahr 2021 und 102,6 Prozent im Jahr 2022 ansteigen wird.

Inflation bleibt niedrig

Ein starker Rückgang der Energiepreise hat die Gesamtinflation im August und September in den Negativbereich abgleiten lassen. Die Kerninflation, bei der alle Güter mit Ausnahme von Energie und unverarbeiteten Lebensmitteln berücksichtigt werden, ist während des Sommers wegen der geringeren Nachfrage nach Dienstleistungen (insbesondere tourismusbezogenen Dienstleistungen) und Industrieerzeugnissen ebenfalls erheblich zurückgegangen. Die schwache Nachfrage, die Arbeitsmarktschwäche und ein starker Euro-Wechselkurs werden die Preise drücken.

Die Inflation im Euro-Währungsgebiet, gemessen am harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), dürfte 2020 im Durchschnitt 0,3 Prozent betragen und dann 2021 auf 1,1 Prozent und 2022 auf 1,3 Prozent steigen, da sich die Ölpreise stabilisieren. Für die EU insgesamt wird eine Inflation von 0,7 Prozent im Jahr 2020, 1,3 Prozent im Jahr 2021 und 1,5 Prozent im Jahr 2022 prognostiziert.

Valdis Dombrovskis, Exekutiv-Vizepräsident für eine Wirtschaft im Dienste der Menschen, erklärte: „Diese Prognose kommt zu einem Zeitpunkt, da die zweite Welle der Pandemie zu noch größerer Unsicherheit führt und unsere Hoffnungen auf eine schnelle Erholung zunichtemacht. Die Produktion in der EU wird bis Ende 2022 ihren Stand vor der Pandemie nicht erreichen. Doch während dieser starken Turbulenzen haben wir Entschlossenheit und Solidarität bewiesen. Wir haben uns auf bisher nie da gewesene Maßnahmen zur Unterstützung der Menschen und der Unternehmen geeinigt; wir werden gemeinsam die Weichen für die wirtschaftliche Erholung stellen und dabei alle uns zur Verfügung stehenden Mittel anwenden. Wir haben ein richtungsweisendes Konjunkturpaket – NextGenerationEU – vereinbart, in dessen Zentrum die Aufbau- und Resilienzfazilität steht, um die am schlimmsten getroffenen Regionen und Sektoren massiv zu unterstützen. Ich rufe das Europäische Parlament und den Rat neuerlich auf, ihre Verhandlungen rasch zu einem Ende zu bringen, damit 2021 Mittel fließen und wir gemeinsam investieren, reformieren und aufbauen können.“

Ein hohes Maß an Unsicherheit und ein Ausblick mit Abwärtsrisiken

Die Herbstprognose 2020 ist nach wie vor mit außergewöhnlich großen Unsicherheiten und Risiken behaftet. Das Hauptrisiko stellt eine Verschlimmerung der Pandemie dar, die strengere Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit erfordern würde und schwerwiegendere und länger andauernde Auswirkungen auf die Wirtschaft hätte. Deshalb wurde eine Szenarioanalyse für zwei alternative Entwicklungspfade der Pandemie – einen günstigeren und einen abwärtsgerichteten – und deren wirtschaftliche Folgen vorgenommen. Zudem besteht die Gefahr, dass die Narben, die die Pandemie in der Wirtschaft hinterlässt – etwa in Form von Insolvenzen, Langzeitarbeitslosigkeit und Versorgungsunterbrechungen –, tiefer und größer sein könnten. Die europäische Wirtschaft könnte auch in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn sich die Weltwirtschaft und der Welthandel weniger verbesserten als prognostiziert oder wenn die Handelsspannungen zunähmen. Mögliche Spannungen auf den Finanzmärkten sind ein weiteres Abwärtsrisiko.

Andererseits dürfte NextGenerationEU, das Aufbauinstrument der EU, einschließlich der Aufbau- und Resilienzfazilität, der EU-Wirtschaft stärkeren Auftrieb geben als angenommen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die voraussichtlichen Vorteile dieser Initiativen nur teilweise in der Prognose berücksichtigt werden konnten, da zu diesem Zeitpunkt noch kaum Informationen über die nationalen Pläne vorlagen. Zudem hätte ein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ab 2021 positive Auswirkungen auf die EU-Wirtschaft im Vergleich zum Basisszenario, bei dem der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich den Meistbegünstigungsvorschriften der WTO unterliegt.

Hintergrund

Die Prognose wurde vor dem Hintergrund erheblicher Unsicherheit ausgearbeitet, da die Mitgliedstaaten für die zweite Oktoberhälfte umfangreiche neue Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit angekündigt hatten, mit denen die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden soll.

Die Prognose basiert auf den üblichen technischen Annahmen für Wechselkurse, Zinssätze und Rohstoffpreise mit Stichtag 22. Oktober 2020. Bei allen anderen herangezogenen Daten, auch den Angaben zu staatlichen Maßnahmen, wurden in dieser Prognose Informationen bis einschließlich 22. Oktober berücksichtigt. Den Projektionen liegt die Annahme einer unveränderten Politik zugrunde, es sei denn, es wurden glaubwürdig konkrete politische Maßnahmen angekündigt.

Die Prognose hängt von zwei wichtigen technischen Annahmen ab: Erstens wird davon ausgegangen, dass die Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit bis zu einem gewissen Grad während des gesamten Prognosezeitraums in Kraft bleiben. Nach einer deutlichen Verschärfung im vierten Quartal 2020 dürften die Maßnahmen jedoch 2021 schrittweise gelockert werden. Es wird auch davon ausgegangen, dass sich die wirtschaftlichen Auswirkungen bestimmter Beschränkungen im Laufe der Zeit verringern werden, da sich das Gesundheitssystem und die Wirtschaftsbeteiligten an das Coronavirus-Umfeld anpassen. Zweitens: Da die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich noch nicht geklärt sind, beruhen die Projektionen für 2021 und 2022 auf der technischen Annahme, dass der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ab dem 1. Januar 2021 den Meistbegünstigungsvorschriften der WTO unterliegt. Die Annahme dient ausschließlich Prognosezwecken und nimmt das Ergebnis der Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in keiner Weise vorweg.

Die nächste Prognose der Europäischen Kommission wird die Winterprognose 2021 mit aktualisierten BIP- und Inflationsprognosen sein, die im Februar 2021 vorgelegt werden soll.