Wie Online-Händler ihre Läger bei anhaltenden Auftragsspitzen entlasten

In einigen Sortimentsbereichen wie Lebensmittel, DIY, Spiele oder Elektronik erlebt der Online-Handel aufgrund der Corona-Krise ein zweites Weihnachtsgeschäft. „Die Zahl der Pakete steigt täglich und hat inzwischen das Niveau wie vor Weihnachten erreicht“, ließ der Logistiker DHL jüngst wissen. Das Problem daran: Während Online-Händler*innen sich jedes Jahr akribisch darauf einstellen, dass ab Oktober der Weihnachtspeak kommt, rennen die Kund*innen Online-Händlern*innen mit aktuell stark nachgefragten Sortimenten jetzt vollkommen unvorbereitet die virtuellen Läden ein.

Oliver Lucas, Mitgründer der E-Commerce-Beratung ecom consulting und Spezialist für Fulfillment-Prozesse, kennt die Probleme, vor denen viele Online-Anbieter*innen nun stehen. Und er weiß auch, warum Versandprofis wie Brack.ch oder Zooplus aktuell über steigende Logistik-Kosten stöhnen. Seiner Erfahrung zufolge funktionieren Lager bei einer Auslastung von durchschnittlich 80 Prozent am effizientesten. Diese Schwelle ist bei vielen Online-Händler*innen aber inzwischen weit überschritten. „Einige Anbieter*innen haben Auftragszahlen auf “Black-Friday” Niveau“, sagt er. „Nur mit dem Unterschied, dass morgen und übermorgen schon wieder Black Friday ist.“

Doch ungeplante Peaks sind für die Logistik immer schlecht. „Eine längere Auslastung an oder über der eigenen Kapazitätsgrenze ist nie gut, nie effizient, nie günstig“, weiß der Logistik-Coach. „Gleiches gilt, wenn ein hoher Andrang sich auf wenige Sortimente konzentriert.“ Denn dann stünden entweder Ware oder Menschen im Weg. „Ein Lager muss atmen können“, sagt Lucas. Es brauche freie Bewegungsfläche.

Eine weitere Herausforderung für die überlasteten Online-Händler*innen ist die Suche nach neuem und geeignetem Personal. „Mitarbeiter*innen einzuarbeiten ist schwierig, wenn 100 Prozent der bestehenden Mannschaft eigentlich bereits dafür gebraucht wird, das Tagesgeschäft zu bewältigen“, sagt er. Mit Social Distancing und den strengen Hygienevorschriften in den Fulfillment-Zentren wird es noch eine Stufe komplexer.

Doch hilft Lamentieren auch nicht weiter. „Jetzt heißt es Augen zu und durch“, so der Pragmatiker. Damit spricht er vielen Logistiker*innen aus dem Herzen, die stets nach Lösungen für besondere Herausforderungen suchen.

Um die Corona-Krise möglichst positiv zu überstehen, schlägt Lucas zehn Maßnahmen vor:

  1. Schaffen Sie freie Kapazitäten im Wareneingang: Auch wenn es mittelfristig Umsatzpotential reduziert, kann es kurzfristig helfen, die Bestellungen und somit den Wareneingang vorübergehend zu drosseln und so für mehr Platz im Lager zu sorgen – und nebenbei auch die Liquidität zu schonen. Der Versandhändler Amazon hat es vorgemacht und kurzerhand die Annahme von FBA-Händlern in seinen Logistikzentren gestoppt.
  2. Stellen Sie schnell lieferbare Sortimente zusammen: Coop in der Schweiz reagiert auf die Tatsache, dass aktuell alle Lieferfenster komplett ausgebucht sind, mit einer neuen Strategie: Das Unternehmen hat ein Sortiment mit 100 Artikeln zusammengestellt, das Kunden innerhalb von zwei bis drei Tagen bestellen können.
  3. Depriorisieren Sie die Retourenbearbeitung: Verlängern Sie Rückgabefristen oder informieren Sie Ihre Kund*innen darüber, dass die Retourenbearbeitung aufgrund des hohen Bestellaufkommens derzeit leider etwas länger dauert. Die meisten Kund*innen sind aktuell für derartige Probleme sehr verständnisvoll.
  4. Identifizieren Sie Flaschenhälse in der Logistik. Was hemmt den Warenfluss? Wo bilden sich Rückstaus in der Abwicklung? Bei anhaltender Peak-Belastung müssen Engpässe schnell aufgespürt und operativ geeignete Maßnahmen pragmatisch umgesetzt werden. Setzen Sie hierzu auch IT-Kompetenzen ein!
  5. Belohnen Sie geduldige Kund*innen: Amazon hat in den USA „No-Rush-Shipping“ eingeführt. Prime-Kund*innen, die freiwillig länger auf ihre Bestellung warten, werden mit einem Guthaben von drei Dollar pro Bestellung belohnt, das sie dann für den Kauf digitaler Produkte wie Filme oder Spiele verwenden können.
  6. Suchen Sie neue Flächen: Der Lebensmittellieferdienst Picnic hat mitten in der Corona-Krise ein neues Logistik-Zentrum aus dem Boden gestampft, in dem 1.000 Mitarbeiter arbeiten sollen. Zudem wurde die Sonntagslieferung eingeführt. Auch das schafft zusätzliche Kapazitäten.
  7. Verkürzen Sie Entscheidungsprozesse: Jetzt ist nicht die Zeit für endlose Abstimmungs- und Diskussionsrunden – schon gar nicht per Microsoft Teams, Zoom oder Skype. Wer die Krise überleben will, darf keine Angst vor neuen Projekten haben, sondern muss diese konsequent angehen. „Deutschland räumt auf“, ist die Devise. Für Unternehmen, die das nun tatkräftig umsetzen, bietet die Corona-Krise vielleicht sogar neue Chancen.

Für alle Händler mit mehreren Standorten oder Filialen bieten sich folgende Maßnahmen an:

  1. Nutzen Sie vorhandene Flächen anderweitig: Überlegen Sie sich, wie Sie zum Beispiel Ihre Filialen auch als Fulfillment-Zentren nutzen können. Dort sind nicht nur Mitarbeiter*innen, sondern auch Wareneingang und -Ausgang sowie notwendige Sicherheitssysteme für Ware in der Regel bereits vorhanden. So hat beispielsweise MediaMarkt den Versand aus einzelnen Märkten heraus in der Krise umgesetzt.
  2. Verlagern Sie die Retourenbearbeitung: Eine weitere Möglichkeit kann sein, die Retouren in eigene Filialen oder andere nutzbare Flächen zu schicken. Dort gibt es Platz und im Zweifel auch Mitarbeiter*innen, die sich darum kümmern können.
  3. Führen Sie Click & Collect ein: Bei Ikea-Märkten können Kund*innen ihre Online-Bestellungen derzeit außerhalb der Einrichtungshäuser abholen – hierzu werden z.B. die nummerierten Parkbereiche genutzt. Die Drogeriemarktkette dm hat eine Express Abholung eingerichtet. Und auch der bevh macht sich gerade generell dafür stark, dass Kunden online bestellte Ware in Filialen abholen dürfen. Unterstützen Sie diese Forderung und bereiten Sie entsprechende Prozesse vor.

Wenn trotz aller Optimierung die Kapazitäten der eigenen Logistik perspektivisch nicht weiter ausreichen, so ist die strukturierte Durchführung eines Outsourcing-Projektes eine sinnvolle Option. Auch wenn viele Fulfiller derzeit zwar bereits genügend Anfragen haben, so können Unternehmen mit der richtigen Aufbereitung und Adressierung ihres Bedarfes auch kurzfristig einen neuen geeigneten Logistikpartner gewinnen.